„Unser Anspruch muss sein, dass unsere Politik für alle Menschen in Europa funktioniert“

Interview

Rasmus Andresen ist zum neuen Sprecher der Europagruppe Grüne im Europäischen Parlament gewählt worden. Unsere Büroleitung in Brüssel, Eva van de Rakt, sprach mit ihm über die europapolitischen Chancen der grünen Regierungsbeteiligung.

Porträt Rasmus Andresen

Heinrich-Böll-Stiftung: Rasmus, diese Woche bist Du zum Sprecher der Europagruppe Grüne im Europäischen Parlament gewählt worden. Du übernimmst diese Funktion als Nachfolger von Sven Giegold, der als Staatssekretär ins Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz wechselt. Im Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien ist die grüne Handschrift in Bezug auf europapolitische Themen besonders deutlich zu erkennen. Europa zieht sich wie ein grüner Faden durch den 177 Seiten langen Text. Dabei haben auch die grünen Europaabgeordneten eine wichtige Rolle gespielt, deren Expertise in die Koalitionsverhandlungen eingeflossen ist. Was sind Deiner Meinung nach aus europapolitischer Perspektive im Koalitionsvertrag die wichtigsten grünen Erfolge? Wo siehst Du Herausforderungen?

Rasmus Andresen: Die europapolitische Handschrift des Koalitionsvertrages kann sich wirklich sehen lassen. Die klare grundsätzliche Unterstützung für das Klimapaket der EU-Kommission, das klare Bekenntnis zu einer demokratisch gefestigten EU sowie die klare Verständigung auf mehr europäische Klimainvestitionen sind ein großer Erfolg. Die neue Bundesregierung wird in Brüssel nicht mehr ambitionierte Vorschläge ausbremsen, sondern eigene machen. Auch dass die Ampel-Koalition entschieden Rechtsstaatsprobleme in Mitgliedstaaten benennt und im Unterschied zur Vorgängerregierung für die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit auf europäischer Ebene kämpfen will, freut uns im Europäischen Parlament sehr. Aus meiner Sicht werden die Herausforderungen im Alltag kommen. Gerade in der Wirtschafts- und Währungspolitik oder bei sozialen Themen unterscheiden sich die Ampel-Parteien stark.

Die Grünen besetzen insgesamt fünf Ministerien. Mit dem Auswärtigen Amt, dem Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft sowie dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz leiten sie vier europapolitisch zentrale Ressorts, die sich in der Vergangenheit oft gegenseitig blockiert haben. Welche Möglichkeiten eröffnen sich dadurch für eine bessere europapolitische Koordinierung?

Es stimmt mich zuversichtlich, dass wir jetzt an vielen Schnittstellen in der Bundesregierung in europapolitischen Fragen Grüne wie Sven Giegold oder aber auch die neue Staatsministerin für Europa Anna Lührmann in der Verantwortung haben. Wir Grüne sind eine europäische Partei und jetzt haben wir die Chance, unser Land europäischer zu gestalten. Unser Anspruch muss sein, dass unsere Politik für alle Menschen in Europa funktioniert. Die Tatsache, dass wir jetzt einen kürzeren Draht in die Ministerien haben und dort Menschen sitzen, denen man europapolitisch nichts vormachen kann, hilft sehr.

Wo siehst Du die Rolle der Europagruppe Grüne in Bezug auf die neuen Gestaltungsspielräume, die sich durch die grüne Regierungsbeteiligung auf EU-Ebene ergeben? 

Berlin kreist oft um sich selbst. Als Europagruppe können wir in unseren Themen Impulsgeberin für die Ampel-Koalition sein. Wir haben eine große Verantwortung dafür, dass die grüne Regierungsbeteiligung erfolgreich wird. Das bedeutet aus meiner Sicht auch, Debattenräume für europäische Perspektiven zur Verfügung zu stellen. Wir sollten nicht beim Ampel-Kompromiss stehen bleiben, sondern darüber hinaus mit unseren grünen Parteifreund*innen aus anderen Staaten und der Zivilgesellschaft über den Tag hinausdenken. Je besser wir in die Prozesse eingebunden sind, desto stärker sind wir aufgestellt. Deshalb werden wir viel Energie in die Koordinierung zwischen uns Grünen in Brüssel und Berlin stecken.

Das Vorschlagsrecht für die deutsche EU-Kommissarin oder den deutschen EU-Kommissar liegt laut Koalitionsvertrag 2024 bei den Grünen, sofern die Präsidentin oder der Präsident der Kommission nicht aus Deutschland kommt. Diese Abmachung ist ein Erfolg und auch ein politisches Signal an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Welche Hoffnungen verbindest Du damit?

Wir Grüne können selbstbewusst in diese Auseinandersetzung gehen. Mit dem Vorschlagsrecht haben wir die Chance, den Wahlkampf auf die Frage „von der Leyen oder Grün“ zuzuspitzen und sie mit unseren grünen Konzepten anzutreiben. Der Wahlkampf ist noch weit weg, aber das Signal ist klar: An uns Grünen kommt die EU-Kommissionspräsidentin nicht mehr vorbei. Sie wird deshalb in der zweiten Hälfte ihrer Amtszeit liefern und beim Klimapaket und Rechtsstaatlichkeit konkreter werden müssen.

Im Koalitionsvertrag steht, dass das Europäische Parlament gestärkt werden soll. Wie kann dies konkret erreicht werden?

Zu einer gestärkten europäischen Demokratie gehört ein gestärktes Europäisches Parlament. Unser Ziel ist ein vollumfassendes Initiativrecht, so wie wir es aus dem Bundestag oder den Landtagen kennen. Aber auch niedrigschwelliger kann das Parlament durch Mitwirkungs- und Informationsrechte gestärkt werden. Der Wille dafür ist da, jetzt müssen die Bundesminister*innen auch in der Praxis beweisen, dass sie proaktiv auf das Parlament zugehen und unsere Ideen frühzeitig aufgreifen.

Die Ampelkoalition fordert, dass die Arbeit des Rates transparenter werden muss. Was muss dabei Deiner Meinung nach beachtet werden?

Es ist wirklich niemandem zu erklären, dass ein so wichtiges Gremium wie der Rat so intransparent agiert. Wir brauchen mehr Zugänge zu Protokollen, den unterschiedlichen Positionen der Mitgliedstaaten und Transparenz darüber, wen die Vertreter*innen der Mitgliedstaaten zu Beratungen über Gesetze getroffen haben. Wir als Europäisches Parlament haben zu diesem Punkt auch konkrete Forderungen verabschiedet und gehen selbst mit mehr Transparenz voran. Auch die Kommission hat ihre Transparenzregeln. Beim Rat ist das leider nicht der Fall. Die Mitgliedstaaten verheimlichen, wie die Beratungsprozesse laufen. Es ist gut, dass der Ampel-Koalitionsvertrag sich für mehr Transparenz im Rat ausspricht. Es wäre wirklich begrüßenswert, wenn die neue Bundesregierung hier einen Vorstoß auf Basis des Koalitionsvertrages vornehmen würde. Danach müssten die Positionen der Mitgliedstaaten zu Gesetzesvorschlägen regelmäßig veröffentlicht werden. Dann könnte die Öffentlichkeit zum Beispiel nachvollziehen, wer im Rat eine Entscheidung blockiert oder was der konkrete Streitpunkt ist.

Im Koalitionsvertrag fordern die Ampel-Parteien die Europäische Kommission als Hüterin der Verträge auf, bestehende Rechtsstaatsinstrumente konsequenter und zeitnah zu nutzen und durchzusetzen. Auch im Rat möchte die neue deutsche Bundesregierung die Anwendung der bestehenden Rechtsstaatsinstrumente besser nutzen und weiterentwickeln. Wie kann dies gelingen?

Es gibt ganz klare Regeln, die eigentlich schon längst von der Kommission hätten umgesetzt werden müssen. Den Konditionalitätsmechanismus, der vor einem Jahr verabschiedet wurde, hätte die Kommission schon lange gegen die polnische und ungarische Regierung auslösen müssen. Wir Abgeordnete machen da schon lange Druck und den ersten Schritt ist die Kommission ja nun auch gegangen, indem sie die ersten Briefe nach Warschau und Budapest geschickt hat. Mit einem stärkeren Rückhalt im Rat, den die neue Bundesregierung bieten wird, geht das nun hoffentlich schneller. Wenn die Kommission weiß, dass ein so wichtiger Partner wie Deutschland hinter ihr steht, wird sie künftig auch konsequenter durchgreifen können. Was natürlich im Rat aufhören muss, ist, dass man Politiker*innen der eigenen Parteienfamilie schützt, wenn sie oder ihre Regierungen klar gegen Rechtsstaatlichkeitsprinzipien verstoßen. Gegen Viktor Orbán wurde erst richtig gehandelt, als seine Partei Fidesz nicht mehr Teil der Fraktion der Europäischen Volkspartei war, der auch die CDU und CSU angehören.

Wie bewertest Du den Koalitionsvertrag im Hinblick auf die Themen Wirtschafts- und Währungsunion sowie Fiskalpolitik?

Ich begrüße es natürlich, dass es auch hier mehr Integration geben soll. Ganz besonders freut es mich, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt in einem Atemzug mit Flexibilität und klimafreundlichen Investitionen genannt wird. Wir brauchen eine Reform der Europäischen Fiskalpolitik, sonst werden wir die ökonomische Spaltung in der EU nicht überwinden.  Wir sehen da auch schon erste Veränderungen gegenüber der Großen Koalition. Der neue Finanzminister Christian Lindner tritt nicht mehr so verhärtet gegenüber flexibleren Defizitregeln auf. Das wird südeuropäischen Mitgliedstaaten helfen und die wichtige Transformation unserer Wirtschaft begünstigen. Alles andere wäre auch einfach keine sachgerechte Wirtschafts- und Finanzpolitik. Ich bin gespannt, wie sich dies in den kommenden Monaten konkretisieren wird. Als Grüne im Europäischen Parlament werden wir uns für eine Reform der Fiskalregeln und mehr wirtschaftspolitische Kompetenz aussprechen.

Im Koalitionsvertrag wird betont, dass die EU international „handlungsfähiger und einiger“ auftreten muss. Die Einstimmigkeitsregel in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik möchte die neue deutsche Bundesregierung durch Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit ersetzen, wobei ein Mechanismus entwickelt werden soll, um die kleineren Mitgliedstaaten angemessen zu beteiligen. Auf welche Partner kann sich die Bundesregierung in dieser Hinsicht verlassen, mit welchem Gegenwind muss sie rechnen?

Das würde die EU natürlich einen entscheidenden Schritt nach vorne bringen. Denn die Kakophonie in der Außenpolitik behindert die EU in ihrem geopolitischen Handlungsspielraum. Die Idee, die Einstimmigkeit durch eine qualifizierte Mehrheit zu ersetzen, ist nicht neu. Die Schwierigkeit besteht darin, dass man einstimmig beschließen müsste, die Einstimmigkeit aufzuheben. Ich setze darauf, dass es unsere grüne Außenministerin Annalena Baerbock schafft, mehr Staaten für diese Pläne ins Boot zu holen.

Im Dezember 2019 stellte Ursula von der Leyen den European Green Deal als das Leitprojekt ihrer Kommission vor, mit dem Ziel, den Übergang zu einer klimaneutralen, ressourceneffizienten und wettbewerbsfähigen Wirtschaft zu schaffen. Wo stehen wir zwei Jahre später? Wie kann die neue Bundesregierung zu einer ambitionierten Umsetzung der Ziele des European Green Deal beitragen?

Als der European Green Deal vorgestellt wurde, hörte sich das nach Aufbruch an. Die Prinzipien, auf denen er fußt, sind richtig und gut. Aber es hat sich schnell gezeigt, wie schwierig es ist, ihn auch umzusetzen und die EU-Gesetzgebung darauf auszurichten, den Kontinent klimaneutral zu machen. Wir haben nun schon einige Rückschläge gesehen. Wir Grüne konnten dem Klimagesetz nicht zustimmen, weil es eine Mogelpackung war und dem 1,5-Grad-Ziel nicht gerecht wurde. Auch die Gemeinsame Agrarpolitik der EU ist nicht reformiert worden. Dabei ist der Landwirtschaftssektor einer der größten CO2-Emittenten. Oft werden diese Gesetze im Rat verwässert, nachdem die Kommission passable Vorschläge gemacht hat und das Europäische Parlament sie oft so annimmt oder ambitionierter macht. Wenn dieses Spiel durch die neue Bundesregierung gestoppt werden würde und die Kommission mit dem Einfluss Deutschlands Verbündete findet, könnten wir dem European Green Deal neues Leben einhauchen und echten Klimaschutz betreiben. Gerade die skandinavischen Mitgliedstaaten und die Benelux-Staaten sind dafür bereit.

Ab 2022 sollen in der EU die neuen Regeln für nachhaltige Investitionen in Kraft treten. Die EU-Taxonomie wird festlegen, unter welchen Voraussetzungen Kapitalanlagen mit den Klima- und Umweltzielen der EU kompatibel sind. Für Finanzmärkte und zukunftsfähige Investitionen ist das ein wichtiges Signal. Allerdings bleibt eine zentrale Streitfrage, ob Atomkraft und Gas als nachhaltige Investitionen eingestuft werden können. Die Europäische Kommission hat angekündigt, dazu bis zum 22. Dezember einen Vorschlag vorzulegen, der den aktuellen Rechtsakt ergänzen soll. Wie kann noch verhindert werden, dass Atomkraft und Gas Teil der Taxonomie werden?

Das ist ein großes Thema bei uns in der Fraktion. Weder Gas noch Atomkraft ist grüne Energie. Sie dazu zu erklären, wäre fatal. Die neue Bundesregierung hat sich klar dagegen ausgesprochen. Wir brauchen aber auch weiteren Druck aus der Umwelt- und Klimabewegung. Die Mehrheiten sind dazu in Brüssel sehr knapp. Je mehr Druck es gibt, desto schwieriger wird es für Frankreich und andere Mitgliedstaaten, diese schädlichen Pläne durchzusetzen.

Am 1. Januar 2022 übernimmt Frankreich die EU-Ratspräsidentschaft. Im Koalitionsvertrag wird betont, dass die neue deutsche Bundesregierung durch eine starke deutsch-französische Partnerschaft geleitet wird. Wo liegen die Chancen der französischen Ratspräsidentschaft, wo siehst Du Herausforderungen für die deutsch-französische Zusammenarbeit?

Die Partnerschaft zwischen Deutschland und Frankreich wird immer sehr stark sein und sie ist unabdingbar für den Zusammenhalt in der Europäischen Union. Es gab immer Differenzen, zum Beispiel bei der Fiskalpolitik. Aber sie haben nicht zu einer Spaltung geführt. Ich glaube, dass wir mit der neuen deutschen Bundesregierung viel mehr gemeinsame Initiativen mit Frankreich bekommen werden. Ein schwieriger Punkt ist momentan, wie wir ja schon angesprochen haben, die Taxonomie und die Tatsache, dass Macron die Atomkraft so pusht und dabei unheilige Allianzen mit einigen mitteleuropäischen Staaten eingeht. Das sehen wir Grüne im Europäischen Parlament mit Sorge. Aber die Ratspräsidentschaft eines großen Landes birgt auch immer die Chance, bedeutende Prozesse anzustoßen oder abzuschließen. Frankreich möchte zum Beispiel die Gesetzgebung zur Digitalregulierung abschließen. Das liegt mir sehr am Herzen. Wir müssen Big Tech endlich in ihre Schranken weisen. In anderen Bereichen hat die französische Regierung interessante Vorschläge. Es gibt da viele gemeinsame Ziele. Frankreich setzt sich zum Beispiel stark für die Biodiversität ein. Aber die französische Regierung muss auch beweisen, dass sie es wirklich ernst meint: Kernenergie ist mit ernst gemeintem Umweltschutz nicht zu vereinbaren.

Wir danken Dir für das Gespräch und wünschen Dir für Deine neuen Aufgaben viel Erfolg!

Das Interview führte Eva van de Rakt.


Rasmus Andresen, geboren 1986, ist seit 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments (Grüne/EFA). Seit 2021 ist er Sprecher der Europagruppe Grüne.

Als Europaabgeordneter setzt er sich für eine ökologische und klimagerechte EU ein. Eine EU, die Minderheiten schützt und eine unabhängige europäische Digitalpolitik vorantreibt. Rasmus ist Mitglied und Koordinator der grünen Fraktion im Haushaltsauschuss. Als stellvertretendes Mitglied in den Ausschüssen für Industrie, Energie und Forschung sowie für Binnenmarkt und Verbraucherschutz ist er für digitale Themen wie künstliche Intelligenz, digitale Infrastruktur, das freie Internet und Start-Ups zuständig. Als Mitglied der LGBTI*-Intergroup setzt er sich für die Rechte von queeren Menschen ein.

Seit 2001 ist Rasmus Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen. 2006 wurde er Landesvorsitzender der Grünen Jugend Schleswig-Holstein. 2009 wurde er in den Schleswig-Holsteinischen Landtag gewählt, von 2017 bis 2019 war er Landtagsvizepräsident. Er studierte in Dänemark Kommunikations- und Verwaltungswissenschaften.